Auf der Jagd nach den köstlichen Schätzen des Pazifiks
Die Seeleute von Chungungo
Taucher und Fischer. Loco und Congrio. In dem Dorf Chungungo in der chilenischen Provinz Coquimbo ist das der tägliche Tanz des Lebens.
Seit Generationen trotzen die Seeleute hier den Stimmungsschwankungen des Pazifiks und jagen nach begehrten Meeresfrüchten und Fischen, die ihre Lebensgrundlage bilden. Jeden Tag stellt sich erneut die Frage: Wird das Meer seine Schätze preisgeben?
Die Morgendämmerung bricht über Chungungo an, einem kleinen Küstendorf an der schmalsten Stelle Chiles, etwa fünfhundert Kilometer nördlich der Hauptstadt Santiago. Der Himmel wechselt langsam von Tintenschwarz zu Tiefblau, als die ersten Sonnenstrahlen die zerklüfteten Klippen und abgelegenen Buchten der Pazifikküste beleuchten. Nebelschwaden treiben über die Wasseroberfläche, wie tanzende Geister, die die Geheimnisse des Meeres bewachen.
Auf dem verwitterten hölzernen Dock, wo die Luft nach Salz und Seetang riecht, bereitet sich Kapitän Jesus Prada auf einen weiteren Tag auf See vor. Sein Boot, die Christian, schaukelt sanft auf dem Wasser, bereit für das nächste Abenteuer. Bereit, die Schätze des Meeres zu ernten. Der rostige Metallrumpf erzählt die Geschichte unzähliger Fahrten auf den stürmischen Gewässern des Pazifiks.
„Jeden Morgen, wenn ich hier draußen bin, fühle ich dieselbe Aufregung wie beim ersten Auslaufen. Das Meer ruft nach mir“
Der Christ
Jesus Prada, 35 Jahre alt und seit fast zwei Jahrzehnten Fischer, ist der stolze Besitzer der Christian. Das Schiff, ein Familienbesitz, auf dem alle Familienmitglieder schuften mussten, ist für Jesus eine große Verantwortung. Im Alter von sechzehn Jahren begann er auf dem Boot seines Vaters sein Leben auf See. Jetzt leitet er seine eigene Mannschaft, zusammen mit seinem besten Kumpel Victor Alcantara, der seit seinem achtzehnten Lebensjahr auf dem Schiff arbeitet. Der heute 32-jährige Victor hat über vierzehn Jahre Erfahrung und ist eine unverzichtbare Stütze und ein Blutsbruder für Jesus. „Jeden Morgen, wenn ich hier draußen bin“, sagt Jesus, dessen Stimme von der salzigen Seeluft heiser ist, „fühle ich die gleiche Aufregung wie beim ersten Auslaufen. Das Meer ruft nach mir.”
Nicht weit entfernt von der Anlegestelle, wo die Wellen gegen die felsige Küste schlagen und weiße Schaumkronen bilden, bereiten sich auch die Seeleute Eduardo Guzman und sein Onkel Leonardo Afumado, darauf vor, in die Tiefen des Ozeans zu tauchen. Ihr Ziel: der seltene und wertvolle Loco, eine essbare Meeresschnecke, die ihren Lebensunterhalt sichert.
Der Horizont ist eine gerade Linie, an der sich tiefblaues Meer und hellblauer Himmel treffen, unterbrochen nur von den Silhouetten entfernter Fischerboote
Neptun
Die Christian, ein offenes Fischerboot mit nur einem kleinen Steuerhaus zum Schutz vor den rauen Elementen, ist mit einem Yamaha-Motor mit 150 PS ausgestattet. Das reicht aus, um einigermaßen rasch zu den Fischgründen zu gelangen. Auf diesem Boot fischen Jesus und Victor nach jurel (Stachelmakrele), congrio (Meeraal) und cojinoa (Goldlippfisch).
Gestern haben sie zwanzig Netze ausgeworfen, in der Hoffnung, heute einen guten Fang zu machen. Manchmal bringen sie eine halbe Tonne Fisch an Land, doch an anderen Tagen ist Neptun weniger großzügig.
Jesus Prada steuert die Christian gekonnt durch die rollenden Wellen. Der Horizont ist eine gerade Linie, an der sich tiefblaues Meer und hellblauer Himmel treffen, unterbrochen nur von den Silhouetten entfernter Fischerboote. Er zeigt auf die Schaumkronen auf den Wellen in der Ferne. Vögel kreisen über dem Wasser. „Siehst du die Möwen?“, fragt er. „Da unten sind Robben am Fressen. Die Vögel warten auf die Reste, die an die Oberfläche schwimmen.”
Salz in den Venen
Es sind diese kleinen Hinweise, die es den Fischern von Chungungo ermöglichen, das Meer zu lesen. Sie verstehen die subtilen Zeichen der Natur, die ihnen verraten, wo Fische sind. Victor nickt verständnisvoll, während er sich eine Zigarette anzündet. Sie lesen das Meer wie ihre Vorfahren, jede Welle und jeder Farbton ist ein Hinweis darauf, was unter der Oberfläche liegt.
Ein Meer, das sowohl Freund als auch Feind ist. Jesus erzählt eine tragische Geschichte über seinen Bruder, der 2010 beim Kentern seines Bootes ertrank. Drei Tage lang trieb sein Körper im Wasser, bevor er gefunden wurde. Trotz seines Schmerzes zieht es Jesus immer wieder aufs Meer hinaus. „Ich habe Salz in meinen Adern, genau wie der Rest meiner Familie“, sagt er. „Wir sind alle Fischer oder Taucher.”
Netz um Netz holen wir ein. Jesus und Victor steht der Schweiß auf der Stirn. Jedes Mal sind die Netze leer. Mit jedem Netz sieht Jesus weniger fröhlich aus. Irgendwann zappelt ein einziger Fisch im Netz. Ein Fisch. In insgesamt zwanzig Netzen. Zwei Tage Arbeit. Auswerfen, einholen, entwirren, wieder auswerfen. Der Rhythmus des Fischers und seiner Netze. Neptun ist heute geizig.
Fünfhundert Kilo
„Die Fische haben sich zurückgezogen, vielleicht wegen des hellen Mondlichts der letzten Nächte. Manchmal ist das Meer großzügig. Manchmal behält es alles für sich“, bemerkt Jesus mit einem Lächeln, das die Falten um seine Augen betont. „Aber man weiß nie, was der nächste Tag bringen wird. Vor ein paar Wochen haben wir fast fünfhundert Kilo auf einmal gefangen. Man weiß nie.“
Nachdem wir die Netze eingeholt haben, darf ich das Steuer übernehmen. Mit der vollen Kraft des Motors schneiden wir durch das blaue Wasser. Das Meer mag heute nicht so großzügig sein, aber die Hoffnung bleibt. Auf Morgen. Auf einen besseren Fang.
“Manchmal ist das Meer großzügig. Manchmal behält es alles für sich”, bemerkt Jesus mit einem Lächeln, das die Falten um seine Augen betont
Die Molluskenjäger
Während Jesus und Victor ihre Netze einholen, schwimmt Eduardo viele Meter unter der azurblauen Oberfläche. Das Sonnenlicht dringt durch das Wasser und wandelt es in eine surreale blaugrüne Landschaft, in der sich Algen wie Unterwasserwälder in der Strömung wiegen.
Neben den Fischern gibt es auch die Taucher von Chungungo. Sie suchen nach Weichtieren wie macha (eine Salzwassermuschel) und lapa (Herzmuschel). Eduardo Guzman ist einer dieser mutigen Männer. Gemeinsam mit seinem Onkel Leonardo Afumado und ihrem Freund Tomas Sarmiento tauchen sie zum Meeresboden, um diese wertvollen Muscheln zu sammeln. Eduardo sagt, dass sie zwischen fünf und zehn Meter tief tauchen. Manchmal sogar dreißig Meter tief. „Es ist gefährlich“, gibt er zu. „Ein Kollege von uns kann wegen der Dekompressionskrankheit kaum noch gehen. Aber er taucht weiter. Es gefällt ihm dort unten.“
Auch die starken Strömungen machen das Tauchen gefährlich. Eduardo erinnert sich an einen Vorfall vor ein paar Monaten, als ein Schwimmer von der Strömung mitgerissen wurde. „Wir haben sechs Tage lang nach ihm gesucht“, berichet er, „gefunden haben wir ihn nicht.“ Das Meer kann unbarmherzig sein.
Der Loco mit seinem saftigen Fleisch ist eine begehrte Delikatesse in Chile
Saftiges Fleisch
Chungungo ist berühmt für seine Mollusken-Taucher. Sie spielen eine wichtige Rolle in der lokalen Wirtschaft. Diese Taucher, darunter Eduardo, Leonardo und Tomas, riskieren ihr Leben, um die Schätze des Meeres zu bergen. „Wir tauchen nur zweimal im Monat“, erklärt Eduardo. „Jedes Mal bringen wir etwa hundert Kilo Mollusken mit. Bei einem Ertrag von etwa tausend Euro pro Tauchgang können unsere Familien davon leben. Häufigeres Tauchen würde das Meer auslaugen, das wollen wir vermeiden.“
Der Loco mit seiner charakteristischen spiralförmigen Schale und seinem saftigen Fleisch ist in Chile eine begehrte Delikatesse. Allerdings hat die Überfischung zu einem erheblichen Rückgang der Loco-Populationen geführt, worauf die chilenische Regierung strenge Vorschriften erlassen hat. Die Taucher von Chungungo gehören zu den wenigen, die Locos fangen dürfen. Es ist ein anspruchsvoller und gefährlicher Beruf. Es braucht körperliche Stärke, geistige Belastbarkeit und tiefen Respekt vor dem Meer.
Die Taucher von Chungungo wissen zudem um die Bedeutung nachhaltiger Fangmethoden. Sie halten sich streng an Quoten und Größenbeschränkungen. Sie verstehen, dass sich Loco-Populationen erholen müssen. Im Einklang mit der Meeresumwelt arbeitend, tragen die Fischer dazu bei, ihre Lebensweise für künftige Generationen zu erhalten.
Salz fließt durch unsere Adern. Das Meer ist ein Teil von uns selbst
Verantwortung
Eduardo Guzman erklärt: „Wir tauchen nicht mehr als nötig. Unsere Vorfahren haben uns gelehrt, das Meer zu respektieren. Wir nehmen nicht mehr, als wir brauchen. Es ist unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass auch unsere Kinder genießen können, was das Meer zu bieten hat.“
Leonardo Afumado, ein erfahrener Taucher, erzählt stolz, wie er seine Fähigkeiten an seinen Neffen Eduardo weitergegeben hat. „Es ist mehr als ein Beruf“, sagt er. „Es ist eine Lebenseinstellung. Wir sind nicht nur Fischer, wir sind Hüter des Ozeans.“
Der Tag schreitet voran, das Licht ändert sich. Jetzt steht die Sonne hoch am Himmel, ihre Strahlen spiegeln sich auf der Wasseroberfläche wie tausende tanzende Diamanten. Die Fischer entladen ihren Fang, die Taucher bringen die Mollusken an Land. Was diese Männer eint, ist ihr tiefer Respekt vor dem Meer.
Chilenischer Wein
„Wir sind eins mit dem Meer”, sagt Jesus, während er mir ein vergilbtes Foto seines Bruders überreicht, der 2010 auf See starb. „Salz fließt durch unsere Adern, das Meer ist ein Teil von uns.“ Während er die letzten Mollusken von ihrem Boot hebt, ergänzt Eduardo: „Und jeder Tag auf See ist ein Geschenk. Wir tun das nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Gemeinschaft. Und die Zukunft.“ Wenig später sitzen Fischer, Taucher und ich in einem lokalen Restaurant und verspeisen die frisch geernteten Muscheln. Perfekt dazu passt der chilenische Wein, mit denen wir die Kostbarkeiten herunterspülen.
Der nächste Morgen in Chungungo: Die Luft ist erfüllt vom Geruch von Salz und Seetang. Jesus und Victor bereiten ihre Netze für den nächten Fang vor. Tomas, Eduardo und Leonardo trinken Kaffee und rauchen eine Zigarette. Ich frage mich, ob sie von unserem gestrigen Festmahl aus Muscheln und Wein genauso verkatert sind wie ich. Heute bleiben sie an Land. In der Ferne rollen die Wellen auf die Küste zu.
Geheimnisse
Jesus blickt auf den Horizont, wo die ersten Sonnenstrahlen die Nacht verjagen. „Jeder Tag ist eine neue Chance“, murmelt er, mehr zu sich selbst als zu mir. Das Meer kann grausam sein, aber es ist auch großzügig. Möge es heute großzügig sein. Victor wirft die Seile, das Boot legt ab.
Sanft schaukelnd segelt die Christian hinaus. Mit halbgeschlossenen Augen sieht es für mich aus wie ein ewiger Tango zwischen Mensch und Meer. Dazu gesellen sich Nebelschwaden. Wie tanzende Geister scheinen sie die Geheimnisse des Meeres zu bewachen.
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