Abenteuer im Scoresby Sund mit der Tilvera
Grönland Segelexpedition
Magazine → Ausgabe #25 →
WideOyster-Fotograf Frits Meyst geht an Bord des isländischen Segelschiffs Tilvera. Zusammen mit zehn anderen Abenteurern trotzt er katabatischen Winden, beißendem Frost, krachenden Gletschern und sich verdickendem Packeis. Er dringt tief in einen wilden und trostlosen Inselkontinent vor, in die Heimat von Eisbären, Moschusochsen und arktischen Hasen. Segele durch einen der letzten Orte auf unserem Planeten, wo Mutter Natur noch das Sagen hat und der Mensch nur Gast ist.
Ich steige gerade aus dem Flugzeug vom Typ De Havilland Canada Dash 8 auf die unbefestigte Landebahn von Constable Pynt im Südosten Grönlands. “Sind Sie Frits?”, begrüßt mich mit flämischem Akzent – und seiner Kleidung nach zu urteilen – ein erfahrener Polarabenteurer. Während meine Stiefel immer tiefer im Schlamm versinken, antworte ich: “Ja, woher wussten Sie das?” Er lacht, zeigt auf meine Kameras und sagt dann: “Belén hat mich gebeten, Ihnen das zu geben.” Dann drückt er mir ein Jagdgewehr in die Hand. “Hier sind Patronen.” Als er meinen verwirrten Blick sieht, fügt er hinzu: “Für die Eisbären.” Er winkt und besteigt das Flugzeug, mit dem ich gekommen bin. Da stehe ich nun, mit einer Waffe in der Hand. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich sicherer fühle. Wie auch immer, lassen wir das Abenteuer beginnen.
Da stehe ich nun, mit einer Waffe in der Hand

Mein Kapitän
In einer nahe gelegenen Bucht wartet die Tilvera, ein wunderschöner 22 Meter langer Zweimaster aus Stahl, gebaut in den Niederlanden. Er ist für alle Wetterbedingungen und Ozeane geeignet. In den letzten zwanzig segelte sie um die Welt, einschließlich Expeditionen zu beiden Polen inklusive acht Reisen in die Antarktis.
“Willkommen an Bord, ich bin Belén García Ovide, und dies ist mein Kapitän Heimir Hardarson”, lacht die spanische Wissenschaftlerin und schickt ein liebevolles Augenzwinkern in Richtung des robusten Seemanns aus Island. Die beiden sind die stolzen neuen Besitzer der Tilvera und Tilvera Expeditions. Das Paar hat jahrzehntelange Erfahrung im Segeln und in der Erforschung der Ozeane. In den letzten zehn Jahren widmetet sich Belén der Meeresforschung und leitete Projekte rund um nachhaltigen Tourismus, Walforschung, Plastikverschmutzung und Bürgerwissenschaft. Sie sagt: “Mein Mission ist es, mit Tilvera Expeditions die drei Säulen meines bisherigen Lebens zu verbinden: Segeln, Wissenschaft und Bildung”. Die beiden lernten sich kennen, als sie als Guide für Walausflüge anheuerte. Die wurden damals von Heimirs Familienunternehmen organisiert. Er segelt schon seit seiner Jugend auf den Weltmeeren und hat nun mehr als zwanzig Jahre Kapitänserfahrung auf dem Buckel. “Heimir hat einen enormen Drang zum Meer, zur Natur – zum Abenteuer eben. Er liebt es, Expeditionen auf neue und originelle Weise durchzuführen. Er ist ein Visionär.”, schwärmt Belén. “Schon bei North Sailing verwirklichte er viele tolle Ideen. Um umweltfreundlicher zu segeln, rüstete er die Boote um auf Elektro- oder Hybridantrieb.”
Wir treiben ohne Anker. Um uns eine kristallklare, totenstille Welt mit Eisblöcken, die sich grellweiß abheben vom spiegelglatten Fjord mit pechschwarzem Wasser
Elf Gäste aus drei Kontinenten hören aufmerksam der Einführung und der Sicherheitseinweisung zu. Bald darauf lichten wir den Anker. Im windstillen Scoresby Sund segeln wir mit Motor in Richtung untergehende Sonne.

Polar Disco
Die Nacht bricht an. Wir treiben ohne Anker in einer kristallklaren, totenstillen Welt zwischen Eisblöcken, die sich weiß vom pechschwarzen Wasser des spiegelglatten Fjords abheben. Die Fülle der Sterne, die in der Polarnacht zu sehen sind, erweckt in mir melancholische Stimmung.
Zusammen mit meinem Schweizer Cousin Marco übernehme ich die erste Wache. Jeder an Bord übernimmt abwechselnd die Nachtwache. Dabei hält man Ausschau nach Eisbergen und “Bergy Bits”, abgebrochenen Eisbergstücken. Diese sind groß genug, um das Schiff zu beschädigen. Doch die Welt um uns ist ganz ruhig. Dennoch sind wir wachsam. Plötzlich erhellt eine grüne Explosion die dunkle Nacht. Das geisterhafte grüne Licht bewegt sich schnell durch die Dunkelheit, verblasst, wird dann wieder heller. Auf der linken Seite eine weitere Explosion. Noch eine, diesmal rechts. Magentafarbene und grüne Strähnen ziehen durch den Himmel. Manche leuchten scharf wie Scheinwerfer, manche scheinen zu flammen. Es ist die Disco der grönländischen Polarnacht, die Aurora Borealis. Wir sind die einzigen, die dem Lichtspiel beiwohnen. Der Rest der Mannschaft schnarcht in der Vorpiek.
Plötzlich erhellt eine grüne Explosion die dunkle Nacht
Wolkenkratzer
Die Sonne steht knapp über dem Horizont. Ich stecke meinen Kopf aus der Luke. Langsam nähern wir uns dem Sol-Gletscher, einer zwölf Kilometer langen Eismasse. Mit einem Tempo von etwa zehn Metern pro Tag gilt sie als ‘schneller Gletscher’. Ständig brechen von der Eiszunge gigantische Eisfelsen ins Meer – ein ohrenbetäubendes Dauerspektakel. Dazu erheben sich pechschwarze, senkrechte Basaltwände zu beiden Seiten der Eismasse. Sie erscheinen wie zweitausend Meter hohe Torwächter, die auf uns herabschauen. Dann bricht plötzlich blaues Eis von der Zunge ab. Es entsteht, wenn Schnee, der auf einen Gletscher fällt, über sehr lange Zeit zu Eis komprimiert wird. Wie in Zeitlupe stürzt nun ein Wolkenkratzer aus blauem Eis in die Bucht, begleitet von einem Lärm ähnlich einem Schallmauer durchbohrenden Jets – plus einer dreißig Meter entfernten Boeing 747-Turbine. Nach dem Wassereinschlag donnert eine weiße Lawine direkt auf uns zu. Mir erscheint das wie ein Befreiungssturm der seit Tausenden oder Zehntausenden von Jahren eingeschlossenen Eisteile. Die weiße Wolke rast näher. Mein erster Reflex ist ‘Geh’ in Deckung’. Doch der Fotograf in mir gewinnt. Wenig später veschlingt uns die Wolke. Eiskristalle hageln herab. Langsame löst sich die Wolke auf. Jeder an Bord ist mit einer Schicht aus Eisglitter bedeckt. Wow!


Innenstadt von Harlem
Vor der Vikingebugt (Wikingerbucht) taucht der erste gigantische Eisberg auf. Er hat die Größe der Innenstadt von Harlem. Die Eismasse ragt sechzig Meter über unser Deck. Die Mitte des Eisbergs ähnelt einer geschmolzenen Kathedrale. Um die Dimensionen besser zu erfassen, nimmt mich Belén im Zodiac mit. Von der Distanz aus betrachtet, wirkt die Tilvera winzig, fast zerbrechlich vor der blauen Eismauer. “Ist das nicht wunderschön? Nach nicht mal einem Tag haben wir schon das Nordlicht, einen kollabierenden Gletscher und einen riesigen Eisberg gesehen. Jetzt fehlt nur noch ein Eisbär. Dann können wir nach Hause fahren”, lacht sie. “Deshalb heißt das Schiff auch Tilvera. Auf Isländisch bedeutet tilvera ‘Existenz’, aber auch ‘im Moment sein’. Wenn wir unseren Gästen dieses Tilera-Gefühl vermitteln, dann schaffen wir Botschafter für die Polarregion. So tragen wir zum Schutz unberührter Natur auf der Erde bei.”
Jetzt fehlt nur noch der Eisbär
Wir segeln in die Wikingerbucht. Mission: Eisbären finden. Heimir schnappt sich sein Fernglas und steuert so nah wie möglich an die Küste heran. Belén sucht das treibende Eis ab. Bei Einbruch der Dunkelheit entdeckt Heimir zwei weiße Flecken hoch oben auf einem Felsen. Eine Eisbär-Mutter und ihr Junges entspannen sich nach einer ausgiebigen Mahlzeit. “Wir ankern hier. Hoffentlich jagen sie morgen früh wieder”, verkündet Heimir. “Das ist der Vorteil dieser letzten Expedition der Saison. Wir müssen nicht zu einer bestimmten Zeit irgendwo sein. Jetzt können wir auf die Bären warten. Gute Chance auf Sichtung.”
Am nächsten Morgen sind alle früh auf den Beinen. Wir blicken nach oben, aber die Bären sind weg. Heimir startet den Motor. Wir bahnen uns langsam einen Weg durch das Eis. Belén entdeckt den Bären als Erste. “Da! Der gelbe Punkt neben dem weißen Eis ist sein Kopf.” Eisbären sind tatsächlich gelb. Der Bär starrt neugierig – oder hungrig? – zurück. Er stützt sich auf seine Vorderpfoten und klettert flink aufs Eis. Einen Moment lang posiert er, dann gleitet er ins Wasser. Ich bin erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der er vorankommt. “Eisbären schwimmen 75 bis 100 Kilometer pro Tag”, sagt Belén.

Entdecke Grönland mit North Sailing
North Sailing hat seinen Sitz im isländischen Húsavík, der ‘Hauptstadt der Walbeobachtung’. Mit traditionellen Holzsegelschiffen organisieren sie Expeditionen in Ostgrönland. Die Reise startet mit dem Flugzeug ab Reykjavik. Mit der letzten Expedition der Saison kannst du sogar auf dem Schiff nach Island zurückkehren. Hast du Lust mitzusegeln?

als Freiwilliger bei Ocean Missions
Belén García Ovide gründete auch Ocean Missions. Diese Stiftung kartiert den Ozean um Island und erfasst Umweltdaten. Bezahlte Freiwillige können dabei mithelfen und Wissenschaftler unterstützen – eine spannende und bedeutsame Aktivität im Namen der Wissenschaft rund um Mikroplastik, Wale, Vögel und Umweltverschmutzung. Jeder mit Herz für den Ozean kann dabei sein!

Bären-Snacks
Auf einer unbewohnten Insel setzt Heimir die Gruppe an Land, um das Eiland zu erkunden. Er wird uns auf der anderen Seite wieder abholen. Karten der Insel existieren nicht, also machen wir uns auf ein kleines Abenteuer gefasst. Diana, die Erste Offizierin des Schiffes, geht mit dem Gewehr voran. Belén bildet das Schlusslicht. Nach einem steilen Anstieg betreten wir ein Reich von schroffer Schönheit und eisigen Wundern. Von den Gipfeln der Insel, die sich steil von der Küste erheben, blicken wir auf unberührte Wildnis. Die Sonne steht tief. Sie spiegelt sich in ein paar Gletscherseen entlang unserer Route. Idyllischer kann es kaum sein. Dann knistert das Funkgerät: “Belén, hier ist Tilvera, es gibt zwei Eisbären am Landeplatz. Sie jagen Robben. Seid vorsichtig. Und sucht einen neuen Landeplatz für uns.”
Adrenalin schießt durch unsere Körper. Eisbären sind furchtlose Jäger, auch Menschen stehen auf der Speisekarte. Wir entscheiden uns schnell für eine alternative Route. Wir erhöhen das Tempo, da nun mehr Wegstrecke zurückzulegen ist. Steile Abgänge, Waten durch sumpfige Tundra bis zu den Schienbeinen – das ist uns egal. Endlich sichten wir die Tilvera. Nie zuvor haben wir uns so sehr über ihren Anblick gefreut. Mit untergehender Sonne im Hintergrund segelt sie auf uns zu. Alle sind erleichtert. Und aufgeregt! Jetzt sind wir an Bord. Sicher. Wir schütteln Hände, umarmen uns. Heimir zeigt seine Bilder: eine Eisbärenmutter und ihr Junges, die an einer Robbe kauen. Ich bin neidisch.
“Belén, hier Tilvera. Zwei Eisbären am Landeplatz. Sie jagen Robben. Seid ja vorsichtig!”



Die Gewalt des Piteraq
Im Fønfjord trifft plötzlich ein Wind mit Orkanstärke auf das Schiff. “Das ist ein Piteraq, ein kalter katabatischer Wind, der vom grönländischen Eisschild durch die Fjorde geleitet wird”, ruft Heimir durch den Sturm hindurch, während er eine Luke überprüft. “Der Fønfjord ist wie ein Abflussrohr für den Wind des Inlandeises.” Die Takelage heult, und die Tilvera bockt wie ein ungezähmtes Pferd auf den wilden Wellen. Zum Glück bleibt es heute bei flotten 37 Knoten, was Stärke 8 auf der Beaufort-Skala entspricht – und knapp 69 km/h Windgeschwindigkeit.
So schnell wie der Wind aufgefrischt hat, legt er sich wieder. Nun biegen wir in den Røde Fjord ein. Wunderschöne rostbraune Sedimentberge mit hohem Eisengehalt erstrecken sich entlang des Wassers. Darin zerschellten zuvor mehrere große Eisberge und beendeten damit ihre Reise.
Die Sonne geht hinter dem Horizont unter. Wir steigen in das Zodiac und gleiten durch das spiegelglatte Wasser. Die Stille des Abends wird nur vom Knacken und Knirschen der Eisberge unterbrochen. Die Bugwelle klingt wie Eiswürfel in einem Glas Whiskey. Die Kälte beißt in meine Wangen, meine Fingerspitzen sind taub, aber das macht nichts. Die surreale Schönheit der Blautöne um mich herum verleiht mir das Gefühl, in einer gefrorenen Tolkien-Welt zu sein.
Die Tilvera bockt auf den wilden Wellen wie ein ungezähmtes Pferd
Je weiter unsere Expedition voranschreitet, desto kälter werden die Nächte. Das erste Packeis beginnt, die Fjorde zu erobern. Heimir hat Schwierigkeiten, die Tilvera zu steuern. Wir müssen Scoresby Sund bald verlassen. Der Wind nimmt zu. Das Eis aus. Wir segeln aus dem Nordvestfjord in Richtung Bjørne Øer und passieren dabei Hunderte von Eisbergen. Die Sonne geht unter. Im Eisnebel davor tauchen Bergspitzen auf: Bjørne Øer! Zum letzten Mal betreten wir grönländischen Boden. Diesmal für ein BBQ unter Nordlichtern. Die ostgrönländische Wildnis bereitet sich auf den Winter vor. Und wir unsere 550 Kilometer langen Rückreise durch die Dänische Meerenge in den Heimathafen Husavik.

Segeln auf der Tilvera
Neben den Grönlandexpeditionen für North Sailing segeln Belén und Heimir auch eigene Expeditionen in der Polarregion. Mit der Tilvera möchten sie den Schutz von Ozeanen und Natur verbessern. Nimm an einem der arktischen Segelabenteuer teil – und erkunde Svalbard, Jan Mayen oder die Lofoten.