Im Rhythmus der Gezeiten
Segeln auf der Boreas
Wann immer ich die Inseln Texel, Vlieland, Terschelling, Ameland, Schiermonnikoog besuchen wollte, nahm ich die Fähre. Doch diesmal ist es anders. Ich klettere auf ein historisches Schiff. Gerate in Sturm. Laufe auf Sand auf. Eine Reportage über evolutionäre Erfahrungen im Wattenmeer.
Am Montag ging ich in Harlingen an Bord. Henk (62) und Grietje (54) sind die stolzen Besitzer einer alten Tjalk, benannt nach dem Gott des Nordwindes: Boreas. Eine Tjalk ist ein historischer niederländischer, einmastiger Segelschifftyp für den Gütertransport im Wattenmeer, also ein Wattensegler für flache Küsten- und Binnengewässer.
1897 wurde die Boreas erstmals zu Wasser gelassen. Sie transportierte Vieh, Getreide und Holz zur Ostsee und zurück. Jetzt dient sie als Charterschiff für Mehrtagesfahrten auf dem IJsselmeer und dem Wattenmeer. Letzteres erstreckt sich zwischen Den Helder in den Niederlanden und Esbjerg in Dänemark. Es ist etwa 500 Kilometer lang und durchschnittlich 20 Kilometer breit. Es besteht aus Watt, Schlick- und Sandbänken, durchsetzt mit Inseln, Salzwiesen, eingedeichten Geländern und Kanälen. Neben den Fähren schippern hier auch Segelyachten aus Polyester. Eingefleischte Segler nennen sie Tupperware. Wer als Segler etwas auf sich hält, der segelt Holz. Die Boreas ist ein robustes eisernes Flachbodenschiff mit einem Mast aus einer 150 Jahre alten Fichte aus den Ardennen. “Dem Harz nach zu urteilen, wurde das Baum im Zweiten Weltkrieg von Gewehrkugeln getroffen.” Henk hat den Mast selbst gehobelt, ein Monsterjob, bei dem man sich vor alten Kugeln in Acht nehmen muss. Wenn du nämlich eine übersiehst und sie aus Versehen überhobelst, war es das mit dem Werkzeug.
MIT DEM STROM SCHWIMMEN
Das Wattenmeer ist ein Naturschutzgebiet, das auf der Liste der UNESCO-Weltnaturerben steht. Zugvögel rasten hier. Deshalb dürfen wir uns nicht zu weit auf die Sandbank begeben. Henk weist darauf hin. “Du kannst nur bis zu diesen Stangen gehen. Dahinter sitzen die Vögel. Sie haben einen weiten Weg vor sich. Also lass sie in Ruh’.”
Der Nachmittag wird lang. Wir brauchen Geduld – wir sitzen auf dem Trockenen
Wir sind gerade auf dem Richel, einer Sandbank bei Vlieland, trocken gelaufen. Wir sind gerade auf dem Richel, einer Sandbank bei Vlieland, aufgelaufen. Einer nach dem anderen klettern wir vom Boot. Heute Abend suchen wir nach Herzmuscheln. Die Italienerin Silvia, einer der Gäste an Bord, verspricht, heute Abend zu kochen: Vongole Linguine. Das ist italienisch für “Herzmuscheln mit Spaghetti”. Auf Italienisch klingt es nicht nur schöner, es schmeckt auch besser. Aber ich will nichts vorweg nehmen. Es ist erst Mittag und der Nachmittag wird noch lang werden. Denn wenn man auf dem Trockenen sitzt, braucht man viel Geduld. Das Wattenmeer wird von der Flut beherrscht. Genau das Richtige für den gestressten Mann. Es heißt ‚go with the flow‘ und hier gibt man sich diesem Motto schnell hin. Das Starren auf den Horizont ist deine einzige Beschäftigung. Manchmal glaubt man, Boote schweben zu sehen. So wie einst der Schriftsteller D. H. Lawrence: An einem nebligen Tag scheinen die Schiffe in der Luft zu gleiten. Der englische Dichter beschrieb zwar den Zauber des Gardasees, aber das Wattenmeer ist nicht weniger beeindruckend. Besonders an einem kühlen Tag wie heute, wenn die Luft und das Wasser wie geschmolzenes Glas ineinander übergehen. Zeit für Achtsamkeit, Meditation auf See.
EIN SCHIFFERSKIND
Henk, der bodenständige Mann aus Harlingen, wuchs in einer Binnenschifferfamilie auf. In seinen frühesten Kindheitserinnerungen saß er unter dem Tisch im Deckshaus seiner Eltern – auf einem Binnenschiff. Sein Vater war Kapitän. Die Mutter vertrug das Meer nicht. “Sie wog am Ende nur noch 45 Kilo”, sagt Henk. “Verdammt krank.” So verließ die Familie das Schiff. Sein Vater ging auf den Bau, wechselte er in den Munitionshandel, betrieb dann einen Tabakladen und ein Fremdenverkehrsbüro in Harlingen. Aber das Wasser zog ihn immer wieder an. Ebenso Henk, der schon früh mit dem Segeln begonnen hatte. Ein Freund besaß einen alten Kahn. Mit ein paar Freunden machten sie ihn segelfertig. Der erste Segeltörn führte sie nach Terschelling. Das Segeln interessierte Henk nicht besonders. “Bis ich jemanden schreien hörte: das Schwert! Das Schwert! Dann fand ich es plötzlich sehr spannend.” Denn ohne das Schwert, das ist ein mobiler Kiel, der das Boot stabil im Wasser hält, ist die Gefahr des Kenterns groß. Und das Schwert von Henks Boot hatte sich gelöst und trieb davon . Der Wind pfiff heftig. Jetzt war echtes Segeln angesagt! Und das war genau Henks Sache. Seitdem hat er nicht mehr aufgehört mit dem Segeln.
Grietje kocht ein himmlisches Gericht, Henk bastelt eine stimmungsvolle Playlist
Grietje gesellt sich zu uns. “Am Anfang hatte ich keine Ahnung vom Segeln. Als Henk einmal rief ‘Wirf das Seil zu dem Mann am Kai’, warf ich die komplette Festmachleine über Bord.
Inzwischen sind Henk und Grietje bestens aufeinander eingespielt. Das merkt man besonders, wenn es windig ist. Morgen erwartet uns Windstärke 7. “Dann geht’s heiß her”, grinst Henk. Er steht in Unterhosen im Wasser mit einem vollen Eimer Herzmuscheln in seinen Händen. Grietje reicht ihm einen leeren Eimer, Henk schüttet seine Herzmuscheln hinein. Entschlammung. “Kann man das nicht einfach mit Leitungswasser machen?”, frage ich. “Dann sterben sie”, murmelt Henk. “Sie dürfen erst kurz bevor sie ins kochende Wasser kommen sterben.” Wieder dieses Grinsen.
UND DANN FRISCHTE DER WIND AUF
Der letzte Tag an Bord der Boreas ist nicht wie die Tage zuvor. Es wurde Windstärke 7 vorhergesagt. Eingepackt in einen maritimen Segelanzug betritt Grietje die Kombüse. Leichte Panik auf ihren vom Wind zerzausten Wangen. ” Ich brauche später ein paar starke Hände an Deck!” Grietje weiter: “Im Großsegel gehen zwei Reffs, drei wären besser gewesen. Der Ausleger bleibt in der Tasche, das ist ein Biest. Bei Windstärke 4 bis 5 macht sie das Schiff 2 Knoten schneller. Aber die Fock ist wie ein wildes Pferd!” Ich tue so, als ob ich das verstanden hätte und nicke leicht.
Henk meldet sich beim Hafenmeister von Vlieland. Es klingt ziemlich ominös, wenn Henk ihm sagt: “Wir ziehen das jetzt durch”. Das UKW-Funkgerät piept zurück. “Gute Reise” höre ich als Abschied von der Gegenseite.
“Bis ich jemanden schreien hörte: das Schwert! Das Schwert! Dann fand ich’s plötzlich sehr spannend!”
DAS SCHIFF LIEGT IM LUV
Wir nehmen Kurs zurück nach Harlingen. Jetzt müssen wir gegen den Wind segeln. Henk stößt mit seiner Hüfte pausenlos gegen die Pinne, das ist der Hebel, mit dem er das Ruder bedient. Es sieht so aus, als wolle er ein störrisches friesisches Zugpferd zur Seite schieben. Bei diesen Rudermanövern muss man Fingerspitzengefühl beweisen: Einerseits darf man der schweren See nicht nachgeben, andererseits darf man es nicht zu hart angehen, da das Segel brechen oder reißen könnte. Grietje hockt bei der Schwertwinde, der Vorrichtung, mit der man das Schwert aus dem Wasser hochholen kann. Sie wartet auf Anweisung. “Grietje, Schwert weg!” Und Grietje tut wie ihr geheißen. Im nächsten Moment macht das Schiff fast einen Sprung. Henk muss den Kahn neu ausrichten. Das Vorsegel flattert. Das Großsegel wird herunter gelassen. Henk brüllt: “Nicht zu viel! Stopp!” Vor meinen Augen vollzieht sich ein wahrer Veitstanz zwischen Schiff und Wasser.
So manches Mal habe sie schon mit ihrer gepackten Tasche auf dem Kai gestanden, gesteht sie. Das Segeln ist oft eine große Herausforderung für Grietjes Beziehung mit Henk. Ich finde, die beiden sind großartig. Der Sturm ist vorbei. Grietje kocht uns ein himmlisches Mahl, Henk bastelt eine stimmungsvolle Spotify-Playlist. Er schaltet den handlichen Marschall-Verstärker an und Fat City von Alex Chilton erschallt über das Schiff.
EIN EINZIGARTIGES FUNDSTÜCK
Am Abend wird ‚Seemannsgarn gesponnen‘. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte der Lutine. Einst sank dieses Schiff irgendwo zwischen Vlieland und Terschelling. Dabei wurde Gold im Wert von 300 Millionen Euro mit in die Tiefe gerissen. Bis heute ist das Schiff unauffindbar.
Dann erzählt Henk noch von Dem Kleid. “2016 stieß man vor der Küste von Texel auf ein Wrack. Fast vier Jahrhunderte lang schlummerte es auf dem Meeresgrund. In dem Wrack fand man eine Truhe. Und darin verbarg sich ein Kleid aus reiner Seide. Aus dem Goldenen Zeitalter! Ein einzigartiger Fund.”
“Alle Mann nach vorne!” schreit Henk. “Und hüpfen!”
DER HORIZONT IST GEDULDIG
Das Wattenmeer ist nicht einfach zu befahren. Wie viele Schiffe sind hier auf Grund gelaufen oder gesunken, wie die Lutine? Engländer und Spanier blieben in vergangenen Kriegszeiten im Watt stecken. Das Wattenmeer war ein Schutzschild gegen Feinde. Heutzutage greift jeder, der auf Sand läuft und sich nicht befreien kann, zu seinem UKW-Funkgerät.
Wir bleiben auch stecken. Am zweiten Tag. Wir sind auf dem Weg von Texel nach Terschelling, als die Boreas an einer Sandbank hängen bleibt. Diesmal ungeplant. “Alle Mann nach vorne! schreit Henk. “Und hüpfen!”
Da sind wir nun: acht Leute, die auf dem Vordeck eines alten Plattbodenschiffs herumhüpfen. Lasst uns Musik dazu auflegen, denke ich kurz. Aber wir kommen nicht weiter. Wir sitzen fest. Die Schraube des Motors kämpft sich durch den Sand. Wir hüpfen wie die Massai auf einer kenianischen Ebene.
Wir müssen auf die steigende Flut warten. Auch Henk hat sich mit der Situation abgefunden und nutzt die Zeit, um Wartungsarbeiten zu erledigen. Er schaltet den Motor aus. Stille kehr ein. In der Ferne winken die Bars von Terschelling. Doch wir haben es nicht eilig. Ganz im Gegenteil. Der Horizont ist geduldig.
Segle mit auf dem Wattenmeer!
Die braune Flotte
Von einer Handvoll Enthusiasten vor dem Schrotthaufen gerettet, hat sich die Brown Fleet – einst als Frachtschiff gedacht – zu einer Armada von rund 500 historischen Charterschiffen entwickelt. Für jede Zielgruppe gibt es ein passendes Prachtstück, vom majestätischen Dreimaster bis zur musealen Nussschalen. Und die Boreas. Eine Tjalk mit viel Luxus: private Schlafkabinen, Duschen und eine Küche mit allem Drum und Dran. Lust auf einen Törn?
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