Das Tal der Todesschatten
Wandern im Wadi Qelt
Das Wadi Qelt, das zwischen Jerusalem und Jericho liegt, wird in der Bibel als das Tal der Todesschatten bezeichnet. Klingt unheimlich? Ein Grund mehr für Chefredakteur Marco Barneveld, einen Abstecher dorthin zu unternehmen.
Als getaufter Atheist mit einer Vergangenheit als Sonntagsschüler in Kirchen und Sonntagsschulen habe ich mir immer eine Faszination für die Bibel bewahrt. Das brillante Geschichtenbuch meiner Jugend. Ich bin kein leidenschaftlicher Atheist. Fängt man an fanatisch zu werden, wird es sofort wieder zu einer Religion. Davon distanziere ich mich. Für mich sind alle Geschichten sämtlicher Religionen einfach großartige Erzählungen.
Das Tal der Todesschatten. Als kleiner Junge trug mich meine Fantasie an einen dunklen Ort, an dem Flammen aus dem Boden schossen. Die Beklemmung legte sich wie eine nach Schwefel riechende Decke über mich. Der Ur-Albtraum.
Ich wusste nicht, dass der Ort dieses biblischen Horrors einen realen Standort hatte.
“Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.” (Psalm 23:4)
EINE QUAL
Aber es handelt sich um ein echtes Tal, zwischen Jerusalem und Jericho, mitten in der Wüste von Judäa: Wadi Qelt, so heißt das Tal auf Arabisch.
Wir beginnen die Wanderung frühmorgens mit unserem Führer Malak Hassan in Ein Qelt, der Quelle am Fuße des Wadi Qelt. Die Sonne lugt über die ockerfarbenen Hügel und sorgt für erste Schweißperlen auf die Stirn. Wenn man genau hinschaut, kann man vor den Hügeln Fragmente eines Aquädukts erkennen. “Ein römisches Relikt”, weiß Malak.
“1919 beauftragten die Briten eine Gruppe von drei Armeniern, alle Zierkacheln des Felsendoms zu erneuern”
Nach einem Abstieg von ein paar hundert Metern, passieren wir ein altes Gebäude und skurrile Bunker. “Dieses Gebäude ist eine alte britische Polizeistation aus der Zeit, als Palästina unter britischer Herrschaft stand. Die Bunker wurden entweder von den Briten oder den Jordaniern gebaut, um die Wasserquelle von Ein Qelt und die Polizeistation zu schützen”, erklärt Malak. “Aus der Luft sehen sie wie zerklüftete Kalksteinfelsen aus.”
In den Sommermonaten liegen die Temperaturen oft weit über 40 Grad Celsius. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich nur schwer vorstellen, dass der Name des Tals (Quelt = Qual) von seinem extremen Klima herrühren könnte. Aber ist das wirklich so?
GRÜNE OASE
Wir gehen ein Stück tiefer hinunter. Die Luft ist erfüllt vom Geruch des Wassers. Es plätschert langsam und spärlich, aber es plätschert. Dattelpalmen und Jojobasträucher rascheln sanft in der leichten Wüstenbrise. Sittiche singen ihre zwitschernden Lieder – eine wahrhaft grüne Oase. Zwei junge Beduinenkinder spielen im Wasser. Ihr älterer Bruder sitzt auf einem Esel am Hang des Ufers, während sein Vater schweigend zusieht. Sein Name ist Maher Njoom. Er fragt uns, woher wir kommen. “Aus Holland? Was macht ihr hier?”, fragt er verwirrt. Mit Malaks Hilfe erkläre ich ihm, dass das Gras auf der anderen Seite immer grüner ist und was diese Redewendung bedeutet.
Das Wadi Qelt ist ein langes, enges, schluchtartiges Tal voller Höhlen, in dem man sich leicht verirren kann
Durch die Bäume hindurch erspähen wir ein großes Herrenhaus. “Es ist das Haus der Familie Husseini, aber wir kümmern uns darum”, erklärt Maher. “Das Haus ist seit der Zeit des Osmanische Reiches in ihrem Besitz.”
Wir wandern weiter und erreichen ein grünes Tor, ein Rundbau des alten römischen Viadukts. Die oberen Steine sind uralt. Mit Pflanzen und Moos bewachsene Betonpfeiler sorgen für Stabilität. Wasserstrahlen plätschern durch das Grün und bilden kleine Wasserfälle. Einen kurzen Augenblick tauche ich darunter hindurch. Es scheint fast wie der Eingang zu einem magischen Reich.
Trotz des furchteinflößenden biblischen Namens ist dieses Tal einer der schönsten Flecken in der judäischen Wüste. Die zerklüfteten Felsen, die Jahrtausende lang von Wasserläufen geformt wurden, bieten eine ohrenbetäubende Stille. “Im Winter und im Frühjahr, wenn es regnet, wird der Ort von Wasser überflutet”, sagt Malak. “Während dieser besonderen Zeit blühen Wildblumen, Wasser fließt durch das Tal und Vogelgezwitscher ertönt entlang des Weges. Dann ist alles grün. Am Ende des Sommers ist alles wieder trocken, außer an den Stellen, wo noch ein wenig Wasser fließt. Wie dieses Aquädukt.”
TÜKISCH
Das alles ist viel schöner, als der Name Tal de Todesschatten vermuten lässt. Der Name scheint von dem Ruf des Tals, als gefährlicher Ort für Reisende, zu stammen, die eine Abkürzung auf der Straße zwischen Jerusalem und Jericho nehmen wollten.
Das Wadi Qelt ist ein langes, enges, schluchtartiges Tal voller Höhlen, in dem man sich leicht verirren kann. Überschwemmungen aus dem Hochland von Jerusalem gruben das Wadi durch die Wüste. Die Schlucht bestand größtenteils aus einem trockene Flussbett. Auf diesem war es deutlich einfacher zu wandern, als über die felsigen Hügel zu klettern. Dennoch barg die Schlucht einige Tücken. Wenn es in Jerusalem regnete, konnten die Wassermassen, die von dort bis in die Tiefen des Toten Meeres etwa 1.000 Meter hinabströmten, die Reisenden im Handumdrehen überfluten. Außerdem versteckten sich Banditen und wilde Tiere in den Höhlen und Schluchten des Wadis.
Wenn Pfade sprechen könnten, würde der Weg durch das Wadi Qelt bezaubernde Geschichten erzählen. Alle großen Persönlichkeiten der biblischen Geschichte wanderten auf diesem felsigen Pfad. David floh aus Jerusalem durch das Wadi Qelt, nachdem sich sein Sohn Absalom zum König erklärt hatte (2 Samuel 15:23 – 16:14). König Zedekia floh auf der Flucht vor Nebukadnezars Truppen mitten in der Nacht durch das Wadi (2. Könige 25,1-6). Wir wissen, dass Jesus es zu seinen Lebzeiten durchquerte und dass die 10. römische Legion auf ihrem Weg zur Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. durch das Wadi marschierte.
Im Neuen Testament taucht eine weitere biblische Figur im Wadi Qelt auf: der barmherzige Samariter. Dass Jesus diese raue, gefährliche Straße als Schauplatz für sein Gleichnis von einen verletzten, in einen Hinterhalt geratenen Reisenden wählte, macht durchaus Sinn.
Ob tückisch oder nicht, auf dieser Straße zwischen Jerusalem und Jericho verkehrten regelmäßig Menschen. Jericho war ein lebhaftes Wirtschaftszentrum und eine blühende Wüstenoase, während Jerusalem bereits ein religiöses Zentrum war.
Alle wichtigen Persönlichkeiten der biblischen Geschichte sind auf diesem felsigen Pfad gewandert
DER HEILIGE GEORGE
Plötzlich taucht ein Kreuz auf, das sich vom blauen Himmel abhebt. Ein Zeichen für die Pilger, dass sie auf dem richtigen Weg zum Kloster des Heiligen Georg befinden. Neben dem Kreuz stehend, sehen wir ähnliche Kreuze in allen Richtungen. In der grünen Schlucht unter uns erblicken wir schon gleich die alten Gebäude des Klosters St. Georg, die an steile Steinmauern gebaut sind.
Wir steigen den Weg über die in den Fels gehauene Stufen hinab. Fenster und Türen sind zu erkennen, die Zugang zu Höhlen in der Felswand über und um das Kloster herum bieten. “Diese Räume beherbergen Mönche, die zurückgezogen leben und nur sonntags zu ihren Brüdern ins Kloster gehen”, erklärt Malak.
In solch einer kleinen Höhle nahm die Geschichte des Klosters seinen Lauf, die auf die byzantinische Zeit im 4. Jahrhundert zurückgeht. “Dieses Kloster wurde um die Höhle herum gebaut, die laut dem Alten Testament (1. Könige) die Höhle des Propheten Elias war, als er im Exil lebte und von Raben gefüttert wurde. Um 480 gründete ein Mönch namens Johannes von Theben in diesen Höhlen ein Kloster für die Mönche”, sagt Malak. “Am Ende des 6. Jahrhunderts schloss sich Georg von Choziba den Mönchen an. Alle Mönche wurden während der persischen Eroberung des Heiligen Landes getötet. Bis auf Georg, nach dem das Kloster später benannt wurde.”
Nachdem wir im Kloster unsere Wasserflaschen auffüllen durften, stiegen wir auf der anderen Seite der Schlucht, wo das Wadi Qelt endet, den Hang hinauf um unseren Weg fortzusetzen.
Wadi Qelt ist ein Paradoxon, wie so vieles in diesem Land, das sich heilig nennt, ein Widerspruch ist. Das Tal der Todesschatten? Faszinierende Geschichten. Das ist alles.
Wanderung
Palästina
Palästinensischer Kulturpfad
Der Palestinian Heritage Trail ist eine kulturelle Fernwanderroute in Palästina. Der Weg ist etwa 500 km lang und erstreckt sich vom Dorf Rummana nordwestlich von Jenin über Beit Mirsim südwestlich von Hebron zurück nach Artas in Bethlehem. Hinzu kommt der neu erschlossene Abschnitt in Jerusalem, der in Eizariya beginnt und durch die Altstadt von Jerusalem zu den Dörfern im Nordwesten (Beit Suriq bis Beit Duqqo) führt (siehe Karte). Der Weg führt durch mehr als 60 palästinensische Städte, Dörfer und Gemeinden, in denen die Reisenden die authentische palästinensische Gastfreundschaft erleben und genießen können.
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